Johann Wolfgang Goethe

»Ballade«

Betrachtung und Auslegung

Die Ballade hat etwas Mysterioses, ohne mystisch zu sein; diese letzte Eigenschaft eines Gedichts liegt im Stoff, jene in der Behandlung. Das Geheimnisvolle der Ballade entspringt aus der Vortragsweise. Der Sänger nämlich hat seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren[591] Taten und Bewegung so tief im Sinne, daß er nicht weiß, wie er ihn ans Tageslicht fördern will. Er bedient sich daher aller drei Grundarten der Poesie, um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen soll; er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen und, nach Belieben die Formen wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen oder es weit hinausschieben. Der Refrain, das Wiederkehren ebendesselben Schlußklanges, gibt dieser Dichtart den entschiedenen lyrischen Charakter.

Hat man sich mit ihr vollkommen befreundet, wie es bei uns Deutschen wohl der Fall ist, so sind die Balladen aller Völker verständlich, weil die Geister in gewissen Zeitaltern, entweder kontemporan oder sukzessiv, bei gleichem Geschäft immer gleichartig verfahren. Übrigens ließe sich an einer Auswahl solcher Gedichte die ganze Poetik gar wohl vortragen, weil hier die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen sind, das nur bebrütet werden darf, um als herrlichstes Phänomen auf Goldflügeln in die Lüfte zu steigen.

Zu solchen Betrachtungen gab mir die »Ballade« des vorigen Heftes Gelegenheit; sie ist zwar keineswegs mysterios, allein ich konnte doch beim Vortrag öfters bemerken, daß selbst geistreich-gewandte Personen nicht gleich zum erstenmal ganz zur Anschauung der dargestellten Handlung gelangten. Da ich nun aber nichts daran ändern kann, um ihr mehr Klarheit zu geben, so gedenk ich ihr durch prosaische Darstellung zu Hülfe zu kommen.

Vers 1. Zwei Knaben, in einem alten waldumgebenen Ritterschloß, ergreifen die Gelegenheit, da der Vater auf der Wolfsjagd, die Mutter im Gebet begriffen ist, einen Sänger in die einsame Halle hereinzulassen.

Vers 2. Der alte Barde beginnt unmittelbar seinen geschichtlichen Gesang. Ein Graf, im Augenblick, da Feinde sein Schloß einnehmen, entflieht, nachdem er seine Schätze vergraben, ein Töchterchen in den Mantel gewickelt mit forttragend.[592]

Vers 3. Er geht in die Welt unter der Form eines hülfsbedürftigen Sängers. Das Kind, eine schätzbare Bürde, wächst heran.

Vers 4. Das Hinschwinden der Jahre wird durch Entfärben und Zerstieben des Mantels angedeutet; auch ist die Tochter schön und groß geworden, eines solchen Schirmes bedürfte sie nicht mehr.

Vers 5. Ein fürstlicher Ritter kommt vorbei, anstatt der edel-schönen Hand ein Almosen zu reichen, ergreift er sie werbend, der Vater gesteht die Tochter zu.

Vers 6. Getraut, scheidet sie ungern vom Vater; er zieht einsam umher. Nun aber fällt der Sänger aus seiner Rolle, er ist es selbst; er spricht in der ersten Person, wie er in Gedanken Tochter und Enkel segne.

Vers 7. Er segnet die Kinder, und wir argwöhnen, er sei nicht allein der Graf, dessen der Gesang erwähnte, sondern dies seien seine Enkel, die Fürstin seine Tochter, der fürstliche Jäger sein Schwiegersohn. Wir hoffen das Beste; aber bald werden wir in Schrecken gesetzt. Der stolze, hochfahrende, heftige Vater kommt zurück; entrüstet, daß ein Bettler sich ins Haus geschlichen, gebietet er, denselben ins Verlies zu werfen. Die Kinder sind verschüchtert, die herbeieilende Mutter legt ein freundliches Vorwort ein.

Vers 8. Die Knechte getrauen sich nicht, den würdigen Greis anzurühren; Mutter und Kinder bitten, der Fürst verbeißt nur augenblicklich seinen Zorn. (Dies würde auf dem Theater ein glückliches Bild machen.) Aber ein längst verhaltener Grimm bricht los; im Gefühl seiner alten ritterlichen Herkunft hat es den Stolzen heimlich gereut, die Tochter eines Bettlers geehlicht zu haben.

Vers 9. Schmählich verachtende Vorwürfe gegen Frau und Kinder brechen los.

Vers 10. Der Greis, der in seiner Würde unangetastet stehengeblieben, eröffnet den Mund und erklärt sich als Vater und Großvater, auch als ehemaliger Herr der Burg; das Geschlecht des gegenwärtigen Besitzers hat ihn vertrieben.[593]

Vers 11. Die nähern Umstände klären sich auf; eine gewaltsame Regierungsveränderung hatte den rechtmäßigen König, dem der Graf anhing, vertrieben und so auch seine Getreuen, die nun bei wiederhergestellter Dynastie zurückkehrten. Der Alte legitimiert sich dadurch als Hausbesitzer, daß er die Stelle der vergrabenen Schätze anzudeuten weiß, verkündigt übrigens eine allgemeine Amnestie sowohl im Reiche als im Hause, und alles nimmt ein erfreuliches Ende.

Ich wünsche den Lesern und Sängern das Gedicht durch diese Erklärung genießbarer gemacht zu haben und bemerke noch, daß eine vor vielen Jahren mich anmutende altenglische Ballade, die ein Kundiger jener Literatur vielleicht bald nachweist, diese Darstellung veranlaßt habe. Der Gegenstand war mir sehr lieb geworden, auf den Grad, daß ich ihn auch zur Oper ausarbeitete, welche, wenn schon der entworfene Plan teilweise ausgeführt war, doch, wie so manches andere, hinter mir liegenblieb. Vielleicht ergreift ein Jüngerer diesen Gegenstand, hebt die lyrischen und dramatischen Punkte hervor und drängt die epischen in den Hintergrund. Bei lebhafter, geistreicher Ausführung von seiten des Dichters und Komponisten dürfte sich ein solches Theaterstück wohl gute Aufnahme versprechen.[594]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 17, Berlin 1960 ff.
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