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Dominic Harion / Johannes Pause

Das Erlernen und Beherrschen einer Technik und die Aneignung und Ausübung einer technologisch versierten Praxis können miteinander in einer Wechselbeziehung stehen, sind aber wesentlich verschiedene Prozesse und Dispositionen. In Hinblick darauf, was in jüngerer Zeit als „Digitalisierung“ – formal und inhaltlich – von Unterricht diskutiert wird, ist diese Unterscheidung geeignet, eine Orientierung darüber zu bieten, in welchem Rahmen digitale Unterrichtsgestaltung und Schulentwicklung Lehren und Lernen verändern können.

Die Digitalisierung von Bildungssystemen wird oft assoziiert und identifiziert mit der Weiterentwicklung technischer Infrastrukturen in dem Sinne, dass die Verfügbarmachung einer leistungsfähigen Internetverbindung, von Hard- und Software etwa in der Form von Tablets und Apps sowie der Einsatz virtueller Medien im Fachunterricht bereits eine hinreichende Bedingung für die Erfüllung derselben sei. Zu solchen eher formalen Voraussetzungen treten nun verstärkt Kompetenzraster, die auf die inhaltliche Ausgestaltung von Unterricht im Sinne fächerübergreifender Lernziele fokussieren und diese unter umfassenderen Kategorien subsumieren. Die International Computer and Information Literacy Study (ICILS) etwa, die 2013 erstmalig durchgeführt wurde, erfasste und verglich zunächst Computer and Information Literacy (CIL)-Skills von Schülerinnen und Schülern, verstanden als Fähigkeiten zur Nutzung von Hard- und Software, zur Recherche und Informationsbeschaffung, zur medialen Aufbereitung und Präsentation von Informationen sowie zum Gebrauch digitaler Kommunikationsinfrastrukturen (Fraillon et al. 2019, 51–88). In der zweiten Auflage der Studie 2018, an der auch Luxemburg teilnahm, wurde die Kategorie des Computational Thinking (CT) ergänzt, unter der analytische Kompetenz, die Fähigkeit zur Mustererkennung und Abstraktion sowie algorithmisches Denkvermögen zusammengefasst werden, also Befähigungen, die im engeren Sinne als Lerninhalte von Unterrichtsfächern wie Informatik oder Coding begriffen werden können (89–112). Elemente solcherart modellierter CIL-Skills finden dabei auch Eingang in Medienkompetenzrahmen wie etwa den Medienkompass (SCRIPT 2019), dessen Zielsetzung einerseits darin besteht, ein „grundlegendes Verständnis der Funktionsweise von Medien und digitalen Systemen“ im jeweiligen Fachunterricht anzuregen und andererseits Fähigkeiten zum kritischen und kreativen Einsatz derselben zu entwickeln und zu fördern.

Mit der Engführung auf solche „digitalen Kompetenzen“, verstanden als erlernbare Skills, also Fähigkeiten und Fertigkeiten, sind mithin Techniken anvisiert, die von Schülerinnen und Schülern individuell erworben werden und die einen reflektierten und produktiven Umgang mit neueren Technologien und virtuellen Medien garantieren sollen. Die Schulung derartiger Kompetenzen ist angesichts des Leitmedienwandels – vereinfachend ausgedrückt also dem Übergang von gedruckten hin zu virtuellen Medien und Lernumgebungen – nun durchaus ein sinnvolles Ziel, sofern die Grenzen kompetenzorientierten Unterrichts in seiner Funktion als Vermittlung solcher Techniken mitgedacht werden. Ein geübter Umgang mit digitalen Unterrichtsformaten, die von Lernenden wie Lehrenden beherrscht werden, ist weiterhin unter Bedingungen wie den aktuellen Remote-Teaching-Szenarien im Rahmen der COVID-19-Response eine hilfreiche Basis, um Unterricht in neuen, adaptierten Formen zu gewährleisten oder nach Möglichkeit zu begleiten (vgl. Eickelmann / Drossel 2020 sowie UNESCO 2020).

Was solch digitale Kompetenzorientierung alleine nicht vermag, ist, digitale Bildung zu ermöglichen, denn Bildung ist – pointiert ausgedrückt – ebenso wenig das Ergebnis eines Erlernens und Beherrschens von Fähigkeiten, wie Lernen die einseitige Reaktion auf Lehren ist (vgl. Nohl et al. 2015, 154, sowie Müller 2013). Die generelle Kritik am Kompetenzbegriff in den Bildungswissenschaften ist nun keineswegs neu und wurde in jüngerer Zeit intensiv diskutiert (vgl. etwa Liessmann 2006, 2014 und 2017 sowie Bieri 2008).

Es bestehen Unterschiede darin, in etwas kompetent oder gebildet zu sein, denn Bildung, das macht ihren Stachel aus, lässt sich nicht auf formale Fähigkeiten und Anwendungsorientierungen reduzieren. Bildung hat immer auch mit konkreten Inhalten und […] abstraktem Wissen zu tun, damit auch mit Einsichten und Haltungen, die ihren Wert vorab in sich tragen und es den Menschen erlauben, zu sich und der Welt in einer Weise Stellung zu beziehen, die nicht nur dem Diktat der Zeit und ihrer Moden gehorcht. (Liessmann 2017, 9)

Um diesen Befund in Hinblick auf Digitalität und Medienwandel in der Schulbildung zu konkretisieren: Die epistemologische und auch die ontologische Dimension digitaler Kultur und ihrer Techniken, der Einfluss, den Medien grundsätzlich und schließlich besonders in ihren digitalen Konfigurationen auf unsere Wahrnehmung, Interpretation und die Bewertung von Selbst und Welt haben, bleibt in der verkürzten kompetenzorientierten Version von Medienpädagogik und Digital Literacy ebenso unterbelichtet wie ihre praktischen Implikationen, verstanden als die Art und Weise, wie wir uns handelnd zu ihnen und mit ihnen verhalten.

Die Fähigkeiten, Hard- und Software zu nutzen, Informationen zu recherchieren, diese medial aufzubereiten und zu präsentieren wie auch die kompetente Nutzung digitaler Kommunikationsmedien sind also zweifelsohne sinnvolle Lernziele. Neben der Beherrschung dieser Techniken besteht jedoch mithin die Notwendigkeit, die praxeologische Dimension von Digitalität zu berücksichtigen – also etwa den Fragen nachzugehen, wie wir mit der grundsätzlichen Offenheit und Verfügbarkeit von Wissensbeständen in einer digitalen Kultur umgehen; danach, wie wir unser Denken und Verhalten an Technologien anpassen und beides im Spiegel unserer Maschinen und Programme interpretieren; und nicht zuletzt danach, wie die verschiedenen Disziplinen und schulischen Fachkulturen durch Medienwandel und digitale Kulturtechniken überformt und transformiert werden. Dabei sind diese Fragestellungen nicht nur für die inhaltliche Gestaltung und Weiterentwicklung von Unterricht und fachbezogenen curricularen Standards von Bedeutung, auch der formale Aufbau und die didaktischen Rahmenbedingungen ändern sich unter den sich wandelnden Organisationsbedingungen der Lebenswelt, von virtuellen Wissensspeichern und digitalen Lehr-Lern-Infrastrukturen.

Aus einer pädagogischen Perspektive stellt sich weniger die Frage, wie wir digitale Objekte wie Whiteboard und Tablets ins Klassenzimmer bringen und Einsatzszenarien dafür finden, sondern wie wir den Umgang mit Unbestimmtheit in einer Kultur der Digitalität in Hinblick auf Bildung gestalten können. Bildung muss im gesellschaftlichen Transformationsprozess laufend neu bestimmt werden. (Allert / Asmussen 2017, 30)

Das klingt alles, zumal in der hier abstrahierenden und prägnanten Darstellung, zunächst wenig unterrichtspraktisch. Die transformativen Prozesse der digitalen Kultur – etwa die Übergänge von einer Buchdruck- hin zu einer Informationsgesellschaft, die Veränderung von Wissenschaftsdiskursen, die Auswirkungen der Mensch-Maschinen-Interaktionen sowie diejenigen der Digitalisierung auf Bildungsgerechtigkeit – sind aber gleichwohl bereits bildungssoziologisch und -psychologisch beschreibbar. Darüber hinaus ist ein rein kompetenzorientierter Unterricht natürlich ein Artefakt und jedes noch so sehr an Kompetenzrastern ausgerichtete Lehren und Lernen ist nicht frei von praxeologischen Effekten, die sich automatisch ergeben, da wir uns nicht mehr nicht zu Digitalität verhalten können. Es stellt sich also die Frage, wie Unterricht sinnvoll aktiv angesichts dieser Wandelprozesse gestaltet werden kann statt reaktiv.

Formal eröffnen sich einerseits neue Möglichkeiten der didaktischen Planung und Umsetzung, die von technischen Neuerungen, von schnelleren und einfacheren Kommunikationswegen und virtuellen Arbeitsumgebungen profitieren können – es ergeben sich schlichtweg praktische Alternativen bei der Gestaltung der Sozialformen und des klassischen Methodenrepertoires, darüber hinaus aber auch für die Lernstandskontrolle und Leistungserfassung etwa über Lernprodukte. Weiterhin bieten sich virtuelle und remote teaching-Szenarien auch für offenes Unterrichten, für neue Konzepte von Projektunterricht und selbstgesteuertem Lernen an, deren Implementierung jedoch (zumal bei erstmaliger Umsetzung) zunächst ressourcenaufwendig ist: Digitale Schul- und Unterrichtsentwicklung benötigt Zeit und wird idealerweise durch einen behutsamen Theorie-Praxis-Transfer mit experimentellen Phasen und solchen der Revision gestaltet.

Absehend von solchen technischen Erwägungen, die eine Digitalisierung von Schule aus einer eher methodischen Perspektive anvisieren, gilt es darüber hinaus auf der inhaltlichen Ebene die Digitalisierung im Fachunterricht in ihrer pädagogischen Dimension zu fassen und zu interpretieren. Das bedeutet gemäß den bisherigen Ausführungen, dass digitale Unterrichtskonzepte und Lehr-Lern-Arrangements eben nicht ein „Methodenfeuerwerk“ erfordern und dass ihr Ziel trotz der motivationalen Aspekte, die der Einsatz von Technik im Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit sich bringt, nicht das „Edutainment“ ist. Das Ziel der Entwicklung einer digitalen Unterrichtskultur besteht vielmehr darin, neben den technischen und den Kompetenzaspekten Reflexions- und Handlungsräume zu eröffnen, wie Unterrichtsinhalte und Wissen, wie Einstellungen und Haltungen durch Leitmedienwandel und Informationstechnologien überformt werden.

Konkret: Es spricht nichts dagegen und sogar sehr viel dafür, etwa Kommunikation in sozialen Netzwerken zum Thema des Sprachenunterrichts zu machen und dabei neben der Dimension des Textes auch diejenige von Bildern und Videos mit in den Blick zu nehmen – solange damit nicht nur ein alleiniger Lebensweltbezug gewährleistet und Medien-/ Kommunikationskompetenz im Sinne der Nutzung von Onlineplattformen und unter Berücksichtigung einer „Netiquette“ wird, sondern Textsortenspezifika, Stilistik, Sprachreflexion und damit auch die Reflexion auf die sprachliche Verfasstheit und Wandelbarkeit von Selbst und Welt thematisch werden.

 

Literatur

Allert, Heidrun / Asmussen, Michael (2017): Bildung als produktive Verwicklung. In: Dies. /Christoph Richter (Hg.): Digitalität und Selbst. Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse. Bielefeld: transcript, S. 27–68.

Bieri, Peter (2017): Wie wäre es, gebildet zu sein? München: Komplett-Media GmbH.

Eickelmann, Birgit / / Drossel, Kerstin (2020): Schule auf Distanz. Perspektiven und Empfehlungen für den Schulalltag. Eine repräsentative Befragung von Lehrkräften in Deutschland. Berlin/Düsseldorf: Vodafone Stiftung.

Fraillon, Julian / Ainley, John / Schulz, Wolfram / Friedman, Tim / Duckworth, Daniel (2019): Preparing for Life in a Digital World. IEA International Computer and Information Literacy Study 2018 International Report. Cham: Springer.

Liessmann, Konrad Paul (2006): Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien: Zsolnay.

– (2014): Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Wien: Zsolnay.

– (2017): Bildung als Provokation. Wien: Zsolnay.

Müller, Andreas (2013): Die Schule schwänzt das Lernen. Und niemand sitzt nach. Bern: Hep.

Nohl, Arnd-Michae / Rosenberg, Florian von / Thomsen, Sarah (2015): Bildung und Lernen im biographischen Kontext. Empirische Typisierungen und praxeologische Reflexionen. Wiesbaden: Springer VS.

Service de la Coordination de la Recherche et de l’Innovation pédagogiques et technologiques (SCRIPT 2019): Medienkompass. Medienkompetent lehren und lernen. Luxemburg: MENJE.

UNESCO (2020): Global monitoring of school closures caused by COVID-19. https://pitt.lu/ext/unesco.