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Charlotte Krämer

Bekanntlich gehören Leistungsstanderfassungen auch im kompetenzorientierten Unterricht fest zum Lehr- und Lernalltag. Sie dienen hier als Feedbackinstrumente und Orientierungshilfen, indem sie Aufschluss darüber geben, welche Kompetenzen von den Lernenden bereits erworben wurden und in welchen Bereichen sie gezielt Unterstützung erfahren sollten, um die anvisierten Lernziele zu erreichen.

Für das Gelingen des Lehr- und Lernprozesses ist es jedoch entscheidend, dass faire und transparente Bewertungsmaßstäbe angesetzt werden. Denn Schülerinnen und Schüler reagieren sensibel auf erfahrene Ungerechtigkeiten: Ihre Leistungen, Lernmotivation und das Interesse am Fach schwinden, wenn sie das Gefühl haben, unfair bewertet zu werden, gleichzeitig nehmen aggressive und den Unterricht störende Verhaltensweisen zu (vgl. Chory-Assad 2002; Chory-Assad/Paulsel 2004). Aber wie lassen sich Fairness oder Gerechtigkeit bei der Leistungsbewertung selbst bemessen?

In der Theorie werden je nach Interessensschwerpunkt verschiedene Formen von Fairness unterschieden: „Informationale Fairness“ etwa betrifft die transparente Weitergabe von relevanten Informationen, „prozedurale Fairness“ (oder auch Verfahrensgerechtigkeit) fokussiert auf die Kriterien, die einem Entscheidungsverfahren zugrunde liegen und „distributive Fairness“ (oder auch Verteilungsgerechtigkeit) bezieht sich auf die gerechte Verteilung von Gütern (systematisch etwa in Rasooli / Zandi / DeLuca 2019; vgl. zudem bereits Greenberg 1987 und 1993).

Im Prüfungskontext bzw. in Bezug auf die Ausarbeitung von prüfungsäquivalenten Lernprodukten lassen sich diese Fairness-Konzepte auch zeitlich voneinander abgrenzen: Informationale Fairness entsteht, wenn Beurteilungskriterien und andere prüfungsrelevante Informationen vor der Leistungsbewertung in angemessener Weise an alle von ihnen betroffenen Schülerinnen und Schüler kommuniziert werden; wenn sie also zum Beispiel vorab über alle sprachlichen, inhaltlichen und ästhetischen Kriterien, die für die spätere Bewertung eines Aufsatzes ausschlaggebend sein werden, informiert werden. Hierbei gilt: Je transparenter und konkreter die angesetzten Kriterien sind, umso besser ist es, und als Beurteilungsgrundlage kommen nur Inhalte infrage, die zuvor auch im Unterricht gelehrt wurden.

Das Konzept der prozeduralen Fairness oder Verfahrensgerechtigkeit zielt hingegen auf die Frage ab, ob die im Vorfeld festgelegten Beurteilungskriterien im Bewertungsprozess auch tatsächlich angewandt werden und für alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen gelten. So sollte etwa die Gewichtung von sprachlichen, inhaltlichen und ästhetischen Kriterien für die Beurteilung eines Aufsatzes bei allen Schülerinnen und Schülern dieselbe sein, und diese Beurteilung sollte unabhängig von früheren Leistungen erfolgen. Zur prozeduralen Fairness zählt weiterhin, dass die Lernenden nicht nur mit einem Urteil, also z. B. einer (Teil-)Note, konfrontiert werden, sondern dass ihnen auch erklärt wird, wie ihre Beurteilung zustande kam, und dass sie die Möglichkeit erhalten, Stellung dazu zu beziehen.
Distributive Fairness oder Verteilungsgerechtigkeit bezieht sich dagegen vornehmlich auf das Ergebnis eines Bewertungsprozesses und damit auf die Zeit nach der Leistungsbewertung. Hier steht etwa die Frage im Fokus, ob die Beurteilung eines einzelnen Aufsatzes, wenn man ihn hinsichtlich der Bewertungskriterien mit anderen Texten vergleicht, gerechtfertigt erscheint. Ein anderer, für die Schülerinnen und Schüler zentraler Aspekt von Verteilungsgerechtigkeit bezieht sich zudem auf den von ihnen betriebenen Lernaufwand und die Frage, ob dieser sich auch in der ihnen zugewiesenen Note widerspiegelt. Hierbei handelt es sich zwar in erster Linie um eine individuelle „Kosten-Nutzen-Rechnung“, auf die die Lehrenden jedoch insofern Einfluss nehmen, als sie ihre Leistungserwartungen an den jeweils schulformspezifischen Curricula ausrichten sollten, um eine systematische Über- oder Unterforderung der Schülerinnen und Schüler zu vermeiden (vgl. zur sog. equity theory Adams 1965).

Die Umsetzung und Vermittlung dieser Fairnessstandards ist im Unterrichtsalltag jedoch alles andere als trivial, wie auch die Ergebnisse einer kürzlich erschienenen Studie von Sonnleitner und Kovacs (2020) nahelegen: Befragt wurden Lehrende und Lernende aus zehn österreichischen Sekundarschulklassen dazu, wie gut die Vermittlung von bewertungsrelevanten Informationen gelingt und wie gerecht das Bewertungsprozedere an sich eingeschätzt wird. Hierbei zeigte sich zwar einerseits, dass die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler das Verhalten der Lehrkräfte in Hinblick auf informationale und prozedurale Fairnessaspekte als gerecht einstuft, doch andererseits schätzte die Mehrzahl der Lehrerinnen und Lehrer die Bewertungsmodalitäten – insbesondere von mündlichen Prüfungen – gerechter ein als ihre Schülerinnen und Schüler. Im Zusammenhang mit mündlichen Prüfungssituationen gaben die Lernenden zudem häufiger als bei schriftlichen Leistungsstanderfassungen an, dass ihnen zu wenige Fragen gestellt würden, um ihr Wissen und Können unter Beweis zu stellen, und dass sie weder die zugrunde liegenden Bewertungskriterien noch ihre eigene Note nachvollziehen könnten (Sonnleitner / Kovacs 2020).

Vor diesem Hintergrund sind die Bewertungsraster zu den Unterrichtseinheiten der Reihe #digitallife als ein Angebot an die Lehrenden zu verstehen, das nachvollziehbare und möglichst objektive Kriterien für die Beurteilung von Lernfortschritten zur Verfügung stellt. Diese Lernfortschritte manifestieren sich am Ende einer jeden Unterrichtseinheit, indem die Schülerinnen und Schüler ein auf die jeweiligen Schlüsselkompetenzen zugeschnittenes, alternatives Lernprodukt erarbeiten. Diese Lernprodukte unterscheiden sich dahingehend von klassischen Leistungsüberprüfungen, als sie zwar eine Zielvorstellung definieren (wie z. B. die Erstellung eines Erklärvideos), doch die Entscheidung darüber, wie dieses Ziel am besten zu erreichen sei (etwa mit einem Legetrickvideo oder einem Experteninterview), fällen die Lernenden selbst, sodass die Erarbeitungsphase in diesem Sinne offen abläuft. Neben dem Transfer von Wissen und Kompetenzen auf einen neuen Anwendungsbereich fordert die Arbeit an einem Lernprodukt von den Schülerinnen und Schülern daher auch Eigeninitiative und Kreativität (Haas 2018).

Ihre „Offenheit“ macht Lernprodukte zudem besonders anschluss- und diskursfähig und damit zur wertvollen Ressource für den Folgeunterricht – was jedoch nicht im Widerspruch zur fairen Leistungsbewertung stehen muss (weiterführende Literatur hierzu etwa in Rezat 2016). Denn die auf das jeweilige Lernprodukt zugeschnittenen Bewertungsraster der Reihe #digitallife differenzieren nicht nur zwischen unterschiedlichen Schulzweigen bzw. Leistungsniveaus, sie enthalten auch distinktive Bewertungskriterien, die die Leistungsunterschiede der Schülerinnen und Schüler in übersichtlicher Form und auf verschiedenen Ebenen abbilden: Die inhaltliche Bearbeitungstiefe und -breite der jeweiligen Thematik, zu der auch der selbstständige und kritisch-reflexive Umgang mit den Lerninhalten zählt, die Darstellung bzw. Präsentation dieser Lerninhalte sowie natürlich die individuellen Sprachkompetenzen der Schülerinnen und Schüler. In Verbindung mit fairen Bewertungsmaßstäben können Lernprodukte also durchaus als Äquivalente zu klassischen Prüfungsleistungen eingesetzt werden, so wie es auch für die Unterrichtseinheiten der Reihe #digitallife vorgesehen ist.

 

Literatur

Adams, J. Stacy (1965): Inequity in social exchange. In: Leonard Berkowitz (Hg.): Advances in experimental social psychology. New York: Academic Press, Bd. 2, S. 267–299.

Chory-Assad, Rebecca M. (2002): Classroom justice: Perceptions of fairness as a predictor of student motivation, learning, and aggression. In: Communication Quarterly 50, H. 1, S. 58–77. https://pitt.lu/ext/classroom.

– / Paulsel, Michelle L. (2004): Classroom justice: student aggression and resistance as reactions to perceived unfairness. In: Communication Education 53. H. (3), S. 253–273. https://pitt.lu/ext/student.

Greenberg, Jerald (1987): A Taxonomy of Organizational Justice Theories. In: Academy of Management Review 12, H. 1, S. 9–22. https://pitt.lu/ext/taxonomy.

– (1993): The social side of fairness: Interpersonal and informational classes of organizational justice. In: Russel Cropanzano (Hg.): Justice in the workplace: Approaching fairness in human resource management. Hillsdale: Erlbaum, S. 79–103.

Haas, Gerhard (2018): Handlungs- und produktionsorientierter Unterricht. Theorie und Praxis eines „anderen“ Literaturunterrichts für die Primar- und Sekundarstufe. 12. Aufl. Hannover: Klett/Kallmayer.

Rasooli, Amirhossein / Zandi, Hamed  / DeLuca, Christopher (2019): Conceptualising fairness in classroom assessment: exploring the value of organisational justice theory. In: Assessment in Education: Principles, Policy & Practice 26, H. 5, S. 584–611. https://pitt.lu/ext/conceptualising.

Sonnleitner, Philipp / Kovacs, Carrie (2020): Differences Between Students’ and Teachers’ Fairness Perceptions: Exploring the Potential of a Self-Administered Questionnaire to Improve Teachers’ Assessment Practices. In: Frontiers in Education 5, H. 17. https://pitt.lu/ext/differences.

Rezat, Sara (2016): Fachspezifische Leistungsbewertung und -beurteilung. In: Goer, Charis/Köller, Katharina (Hrsg.): Fachdidaktik Deutsch. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Paderborn: Wilhelm Funk Verlag, S. 97-111.