Jennifer Pavlik

Literatur soll gelehrt werden,
weil sie nicht gelehrt werden kann.
(Baum 2019)

Betrachtungen über das Verhältnis von Theorie und Praxis im Rahmen literaturdidaktischer Theoriebildung können ganze Bibliotheken füllen. Im Folgenden werde ich mich daher darauf beschränken, einen Problemhorizont vorzustellen, der den Gegenstand der Literaturdidaktik betrifft: den Literaturbegriff der Literaturdidaktik. Dabei geht es mir nicht so sehr darum, eine Systematik dieses Begriffes zu entwickeln, sondern Fragen aufzuwerfen, die das Verhältnis von Theorie und Praxis des Deutschunterrichts betreffen.

Vergleicht man die Definitionen dessen, was in den gängigen Einführungswerken unter ,Literaturdidaktik‘ verstanden wird, fällt auf, dass sich diese – trotz der unterschiedlichen Gewichtung von empirischen und theoretischen Anteilen – in einem Punkt mehr oder weniger einig sind: Literaturdidaktik wird verstanden als „Wissenschaft von der Vermittlung von Literatur“  (Dawidowski 2016, 29). Sie beschäftigt sich mit „Lehr- und Lernprozessen, die Lernende in einem ergiebigen Umgang mit Literatur fördern sollen“ (Leubner / Saupe / Richter 2016, 10) und sie ermittelt „Gelingensbedingungen des Lernens“, indem sie „Handlungswissen, das den Orientierungsrahmen für die professionelle Gestaltung des Lehrens und Lernens abgibt“ (Bredel  /  Pieper 2015, 13), bereitstellt.

All diese Standarddefinitionen betonen also mehr oder weniger einhellig, dass die zentrale Aufgabe der Literaturdidaktik darin besteht, unterrichtliche Szenarien zu entwickeln, die dazu beitragen, dass literarische Kompetenzen vermittelt werden können. Was auf den ersten Blick sinnvoll und auch folgerichtig erscheint, eröffnet bei näherer Betrachtung ein Unbehagen, das im Kern mit dem Gegenstand der Vermittlung zusammenhängt, mit dem Verständnis davon, was ,Literatur‘ eigentlich ist. Bei aller theoretischen Differenz besteht schließlich Einigkeit darin, dass literarische Texte mehr sind als reine Informationsträger. Sie eröffnen ästhetische Denk- und Wahrnehmungsräume, die nicht nur von Polysemien, sondern insbesondere auch von der Einbildungskraft der Lesenden leben. Die Interpretation eines Textes zielt dabei weniger auf die „Klärung der Figuren und der Bestimmung ihres Sinns“ als vielmehr auf ein Bewusstsein für die „fortgesetzte Verunsicherung darüber […], ob sie überhaupt Interpretation sei und nicht vielmehr eine weitere Figur aus dem Repertoire der Texte, auf die sie sich bezieht“ (Hamacher 1979, 9).

Eine Literaturdidaktik, die die Vermittlung von Literatur zum Ziel des Lernens erhebt, steht also vor einem unauflösbaren Dilemma: Wie kann Literatur gelehrt werden, wenn doch ihr wesentliches Charakteristikum darin besteht, dass sie sich vor der Operationalisierung ihres Gegenstandes sträubt? Begeht man dann nicht immer schon in dem Moment, in dem man literarische Kompetenzen festschreibt, einen grundsätzlichen Fehler, der am eigentlichen Kern des Unterrichtsgegenstandes, der Literatur, vorbeiführt?

Fragen dieser Art beschäftigen die Literaturdidaktik seit ihren Anfängen, wie u. a. Hans Kügler vor rund 40 Jahren herausgestellt hat, als er kritisch betont hat, dass es Teil des literaturdidaktischen Selbstverständnisses sei, im „Wechselspiel von kühnem Vorentwurf der didaktischen Theorie und nachträglichem Einholen der Vorentwürfe durch die Betroffenen […] wie selbstverständlich […] über ,ihren‘ Gegenstand“ zu verfügen und diesen „mit pädagogischer Bedeutung“ zu präparieren, um ihn „als Textpräparat für den Umgang mit Schülern frei[zugeben]“ (Kügler 1982, 51). Dadurch werde die Literatur, bevor sie sich überhaupt zu Wort melden könne, „in der Regel von der Didaktik schon ,verhaftet‘“ (ebd.).

Wie soll aber sonst über Literatur reflektiert werden, wie soll Deutschunterricht ‚gelingen‘, wenn das Unterrichtsgeschehen nicht auf die Charakterisierung von Figuren, das Verstehen von Motiven und die Applikation auf bzw. von gesellschaftspolitischen Zusammenhängen abzielt? Eine Möglichkeit wäre es, den literaturdidaktischen Blick zu verändern: Der Literaturunterricht könnte sich mehr an literatur- und kulturwissenschaftlichen Theoriebildungen orientieren und nicht primär das Verstehen von literarästhetischen Zusammenhängen zum Lerngegenstand erheben, sondern darauf abzielen, die Ambiguität der Lektüre und die damit einhergehende Verunsicherung als produktive Rezeptionserfahrung wahrnehmbar zu machen. Dadurch würde dem Gegenstand des Unterrichts, der Literatur, mehr Raum geboten und Schülerinnen und Schüler könnten sich verstärkt darin üben, divergierende Deutungsperspektiven zu entwickeln und diese nicht in einer einzigen Interpretation aufgehen zu lassen. Dadurch würden Kompetenzen in den Mittelpunkt gerückt, die darauf abzielen, widerstreitende Sinnangebote wahrzunehmen und anzuerkennen – ein Vorgehen, das für Schülerinnen und Schüler genauso herausfordernd ist wie für Lehrende, da sie den vermeintlich festen Boden der Interpretationshilfen verlassen und sich gemeinsam lesend auf den Weg machen würden, um eine ästhetische Betrachtungsweise kennenzulernen, in der es zwar viele Deutungsansätze gibt, in der sich diese aber wie der Schleier der Penelope beständig wieder auflösen. Ein Literaturunterricht, der das Potenzial von Literatur samt ihrer Herausforderungen und Fallstricke wahrnimmt, würde das gängige Verständnis von Literaturdidaktik ebenso produktiv dekonstruieren wie den damit einhergehenden Anspruch, Literatur sei etwas Lehrbares. Und er würde gleichzeitig aufzeigen, wie viel wir durch eine genaue und für Widersprüche und Paradoxien offene Lese- und Wahrnehmungshaltung lernen können – nicht nur mit Blick auf literarische Werke.

Denn dieses Vorgehen würde die Schülerinnen und Schüler gleichzeitig für eine der großen Herausforderung des gegenwärtigen Lebensalltags sensibilisieren, für den Umgang mit Informationen aus dem World Wide Web. So könnte eine auf ästhetische Irritationen und Interpretationslücken ausgerichtete Lektürepraxis die Lernenden darin üben, auch der digitalen Welt gegenüber eine kritischere Lektürehaltung auszubilden und den vermeintlichen Wahrheiten von Instagram und Co. skeptischer zu begegnen. Eine Lektürehaltung, die weniger auf sinnstiftende Harmonisierung von medialen Formen abzielt und stattdessen eher die Brüche und Unwägbarkeiten medial-ästhetischer Werke in den Blick nimmt, wäre daher nicht nur für eine angemessene Rezeption literarischer Werke gewinnbringend, sie würde die Schülerinnen und Schüler gleichsam darauf vorbereiten, Fake News nicht ohne Weiteres zu erliegen. Auf diese Weise würde der Deutschunterricht schließlich nicht nur seinem Auftrag, zur ästhetischen Bildung beizutragen, gerecht werden, er würde die Schülerinnen und Schüler zugleich in ihrer Persönlichkeitsbildung unterstützen und hätte über die Förderung von Rezeptionskompetenzen hinaus auch politische Implikationen, die deutlich machen, welchen praktischen Wert der Deutschunterricht auch für das Zusammenleben in demokratischen Gemeinschaftsformen haben kann.

 

Literatur

Baum, Michael (2019): Der Widerstand gegen Literatur. Dekonstruktive Lektüren zur Literaturdidaktik. Bielefeld: transcript.

Bredel, Ursula / Piper, Irene (2015): Integrative Deutschdidaktik. Paderborn: Schöningh.

Dawidowski, Christian (2016): Literaturdidaktik Deutsch. Paderborn: Schöningh.

Hamacher, Werner (1979): Unlesbarkeit. In: Paul de Man: Allegorien des Lesens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7–29.

Leubner, Martin / Saupe, Anja / Richter, Matthias (2016): Literaturdidaktik. Berlin/Boston: de Gruyter.