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Träume und Schäume in sozialen Medien

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4.6 Interview mit Annika Lutz

Körperwahrnehmung bei Jugendlichen

Annika Lutz ist Diplompsychologin und arbeitet als Wissenschaftlerin für Klinische Psychophysiologie an der Universität Luxemburg. Dort schloss sie 2015 ihre Dissertation zum Thema „Körperwahrnehmung und -bewertung bei Anorexia nervosa“ ab.

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Makellose Haut, durchtrainierter Strandbody, nachahmenswerter Lifestyle – solche scheinbar perfekten Bilder sehen – und inszenieren – Jugendliche auf Instagram und Co. Was macht das langfristig mit ihrer Psyche?

Zunächst einmal gewöhnt man sich einfach daran. Psychologen nennen das den mere exposure-Effekt, d. h., wenn man etwas ständig sieht, wird es irgendwann normal. Auch wenn man Bilder von Körperidealen vielleicht erst einmal ablehnt, je öfter man sie sieht, desto normaler und positiver findet man sie. Aber es geht noch weiter. Die Bilder werden als Ideale dargestellt – wer einen schönen Körper besitzt, hat laut den Darstellungen auch einen positiven Charakter, ist bei allen beliebt und hoch erfolgreich. Man nennt das auch das „what is beautiful, is good“-Stereotyp, d. h., wir schreiben schönen Menschen mehr positive Eigenschaften zu. Das kann zu der (falschen) Schlussfolgerung führen, dass ich als Durchschnittsperson ebenfalls ,besser‘ werde, auf jeden Fall beliebter und erfolgreicher, wenn ich schlank und schön bin. Hierzu gab es in den 1990er-Jahren interessante Studien auf den Fidschiinseln. Dort wurde erst in den 1990ern westliches Fernsehen eingeführt. Zuvor herrschte dort das Ideal eines üppigen Körpers. Aber mit dem westlichen Fernsehprogramm kam das Ideal des schlanken Körpers. Insbesondere junge Mädchen und Frauen entwickelten daraufhin die Vorstellung, dass sie Diät halten müssen, um schlank zu werden. Denn schlank sein bedeutete für sie, stark und unabhängig zu sein und alle Voraussetzungen für ein erfolgreiches Leben in der westlichen Welt zu erfüllen.

Im Vergleich zu Fernsehen und Zeitschriften sind Instagram und Co. wesentlich persönlicher und interaktiver. Es gibt z. B. die sog. body challenges, in denen sich Nutzer ein Ziel setzen und den Fortschritt auf den sozialen Medien dokumentieren. Dies kann z. B. sein, eine Oberschenkellücke zu erreichen oder seine Taille hinter einem senkrecht gehaltenen DIN-A4-Blatt verschwinden zu lassen. Von der Community erhält man entsprechende Diättipps und Anerkennung, wenn man das Ziel erreicht. Oder es kann einen Wettbewerb geben, z. B. wer die meisten Eurostücke auf sein Schlüsselbein legen kann (weil der Knochen durch einen geringen Körperfettanteil hervorsteht). Die Siegerin wird bewundert. Menschen sind soziale Lebewesen und soziale Anerkennung hat einen sehr hohen Stellenwert. Das Lob der Gleichaltrigen stellt einen sehr großen Anreiz dar, den Idealen nachzueifern.

Was in den einschlägigen Kanälen i. d. R. nicht erwähnt wird, ist, dass jeder Mensch einen anderen Körper hat. Eine Oberschenkellücke hängt z. B. zu einem großen Anteil von den Hüftknochen ab. Für die meisten Frauen ist es normal, bei einem gesunden Körpergewicht keine Oberschenkellücke zu haben. Wenn man dennoch eine erreichen möchte, muss man extrem abnehmen. Dabei besteht die Gefahr, dass die Diät außer Kontrolle gerät und eine Essstörung entsteht. Anorexie (Magersucht) und Bulimie (Ess-Brech-Sucht) sind typische Erkrankungen der westlichen Industrienationen und entstehen in den meisten Fällen aus einer Diät heraus. Auf den Fidschiinseln kamen diese Essstörungen mit dem westlichen Fernsehen an.

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Jugendliche sehen also sehr viel mehr scheinbar perfekte Menschen, als ihnen in der Realität begegnen. Können Sie die daraus ggf. entstehenden Wahrnehmungsstörungen der Jugendlichen genauer beschreiben?

Die meisten Menschen schauen sich wohl lieber Fotos von schönen als von hässlichen Menschen an. Das ist erst mal kein Problem. Das Problem entsteht erst, wenn ich das in den Medien gezeigte Ideal als mein eigenes übernehme und diesem nacheifere. Wenn ich also denke: „Ich sollte den Körper eines Topmodels haben und werde dieses Ziel erreichen, wenn ich mich nur genug anstrenge.“ Genau das wird häufig in den Medien vermittelt: Du musst dich nur genug anstrengen. Und das vermittelt ein falsches Bild. Topmodels sind Topmodels, weil sie einen außergewöhnlichen Körper haben, der vom Durchschnitt abweicht. Die meisten Menschen können dieses Ideal nicht oder zumindest nicht auf gesundem Weg erreichen. Man sieht oft folgenden Ablauf: Eine Person legt das Ideal der Medien als das eigene Ideal fest. Sie/Er stellt fest, dass sie/er diesem Ideal nicht entspricht. Sie/Er ergreift Maßnahmen, um diesem Ideal zu entsprechen, z. B. Diäthalten oder Sporttreiben. Bei Personen, die eine bestimmte Anfälligkeit haben, kann dieses Verhalten eskalieren und zu einer Essstörung führen.

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Warum vergleichen sich Jugendliche überhaupt mit anderen und kann dies nicht auch positive Effekte haben?

Jeder Mensch lebt eingebunden in ein soziales System, und es ist ganz normal, sich mit anderen zu vergleichen, um seine eigene Position in diesem System zu finden, insbesondere während der Jugend. Meist vergleicht man sich mit ähnlichen Personen, z. B. mit den Klassenkameraden. Wenn ich mich mit Personen vergleiche, die schlechter abschneiden als ich – egal, ob es sich um Noten oder Schönheit handelt –, fühle ich mich danach besser. Wenn ich mich aber mit Personen vergleiche, die besser abschneiden, fühle ich mich danach schlechter. Und genau das passiert bei vielen Jugendlichen, wenn sie ihren eigenen Körper mit dem in den Medien präsentierten Ideal vergleichen.

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Viele Jugendliche inszenieren selbst ihr eigenes Leben in sozialen Medien und posten stark bearbeitete und gefilterte Fotos. Sie wissen also eigentlich, dass auch andere Accounts nicht die Realität widerspiegeln. Warum belastet sie das dennoch?

Das menschliche Gehirn hat seine Prioritäten, die aus längst vergangenen Zeiten stammen. In erster Linie wollen wir überleben, und das können wir nur, wenn wir einer Gruppe angehören. Beim sozialen Vergleich in den Medien geht es also für unser Gehirn ums Überleben. Wenn ich das Gefühl habe, nicht dazuzugehören, z. B. weil meine Fotos nicht dem Ideal entsprechen, löst das negative Gefühle aus. Das Gehirn bekommt Angst ums Überleben. Damit das Wissen um die Bearbeitung der Fotos diese Ängste beruhigen kann, muss es schon sehr ausgeprägt und präsent sein. Das ist es meist nicht, da dies nicht offen thematisiert wird. Umso wichtiger ist es, diese Diskussionen offen in der Klasse zu führen.

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Wie können Lehrkräfte den gesunden Umgang mit diesen Fotos fördern und mögliche positive Effekte stärken?

Als erfolgreicher Präventionsansatz für Essstörungen hat sich erwiesen, mit den Jugendlichen genau zu erarbeiten, wie solche Fotos zustande kommen und wie unrealistisch sie meist sind. Wichtig dabei ist, dass die Jugendlichen dies selbst ausarbeiten, damit sie ihre eigene Meinung überdenken können. Dabei hilft es auch, zu erarbeiten, was einen gesunden Körper, eine gesunde Ernährung und einen gesunden Lebensstil eigentlich ausmacht. Interessant kann auch eine Reflexion über den eigenen Selbstwert sein. Woran mache ich eigentlich fest, ob ich mich mag oder nicht? Stimmt das mit dem überein, weshalb meine Freunde und Familie mich mögen? Dabei ist das Ziel, zu erkennen, dass jeder Mensch viel mehr zu bieten hat als nur das Aussehen. Gerade bei Essstörungen sehen wir, dass der Selbstwert allein von Figur und Gewicht bestimmt wird. Besonders wichtig ist dabei ein offenes, wertschätzendes Klima. Figur- und gewichtsbezogene Kommentare können sehr verletzend sein und im schlimmsten Fall eine Essstörung begünstigen. Auch Wissen über Essstörungen und entsprechende Hilfsangebote sollte vermittelt werden.

 

Das Interview führte Isabell Baumann.

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