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Isabell Eva Baumann

Der Leitmedienwechsel vom Buch zum Computer/Smartphone, der die Informations-und Kommunikationsgewohnheiten der Gesellschaft – und damit auch der Schülerinnen und Schüler – verändert hat, lässt sich aus lesedidaktischen Überlegungen nicht mehr wegdenken. Leitmedienwechsel bedeutet freilich nicht, dass die jeweils neuen Medien die alten komplett ersetzen, sondern diese werden ergänzt oder nur teilweise abgelöst. Wir leben in einer Mediengesellschaft (auch: Informationsgesellschaft oder Netzwerkgesellschaft), dennoch wurden die Prozesse der Buchdruck-, der Schrift-, Handschrift- und Sprachgesellschaft durch die Nutzung von Computern und Smartphones nicht abgeschafft. Wir brauchen immer noch die Sprache, immer noch die Handschrift und immer noch das Buch. Analoges Lesen wird weiterhin wichtig bleiben, dennoch prägen digitale Medien entscheidend die kulturellen Praktiken unserer Gesellschaft. Denn ein Medium ist mehr als ein bloßer Informationsträger, es greift tief in die Denkstrukturen und Lernvorgänge ein.

 

Was bedeutet diese Veränderung nun konkret für den Deutschunterricht?

Zeitgenössische Lektürepraktiken aus der Lebenswelt der SuS sind vornehmlich digital. Zunächst einmal muss ein zeitgemäßer Deutschunterricht daher von einem weit gefassten Text- und Literaturbegriff ausgehen, der ganz selbstverständlich sowohl analoge als auch digitale/mediale Literatur berücksichtigt. Auch mit Blick auf den Medienkompass (SCRIPT 2019), der transversale Medienkompetenzen fördert, müssen digitale Texte Bestandteil des Deutschunterrichts sein.

Geht man nun von einem weiten Text- und Literaturbegriff aus, so bietet der Einsatz von digitalen Schulbüchern und Texten, Computern, Tablets, Internet oder interaktiven Whiteboards im Unterricht zahlreiche Vorteile und sie sollten sich genauso selbstverständlich wie das Heft oder die Tafel in Unterrichtskonzepten wiederfinden. Allerdings sollte man sich einige Effekte bewusst machen, die insbesondere das Lesen mit digitalen Medien nach sich zieht.

So unterscheidet sich das Leseverstehen von SuS beim Lesen von Texten am Bildschirm von dem beim Lesen in gedruckter Form, so die überwiegende Zahl der dazu vorliegenden Studien. So fanden etwa Golan et al. (2018) heraus, dass SuS zwischen elf und zwölf Jahren das Lesen am Bildschirm präferierten, jedoch beim Test zum Leseverständnis besser abschnitten, wenn sie den Text vom Papier lasen. Eine weitere Studie mit gleichaltrigen Kindern (Halamish / Elbaz 2019) fand ebenfalls heraus, dass Fünftklässler besseres Leseverständnis beim Lesen von auf Papier gedruckten als auf Bildschirmen angezeigten Texten aufwiesen. Diese beiden Untersuchungen sollen hier nur exemplarisch genannt werden. Im Großteil der Studien, die zum gleichen Ergebnis kamen, war den SuS nicht bewusst, dass sie den Text besser verstehen, wenn sie ihn in gedruckter Form lesen. Diese Effekte sind besonders deutlich bei Sachtexten nachweisbar, digital präsentierte Narrationen werden gleich gut verstanden wie analoge, ausgedruckte.

 

Was sind die Gründe dafür?

Zum einen weist Kammerer auf die fehlende Haptik beim Lesen digitaler Texte hin, die eine visuell-räumliche Orientierung erschwert (2019, 67–69). Mehrere Studien zeigen außerdem, dass das Scrollen sowie die Benutzung von Hyperlinks einen negativen Einfluss auf das Texterinnerungsvermögen und/oder das Leseverständnis hat (z. B. Sanchez / Wiley 2009; Delgado et al. 2018). Das Scrollen stört den Sinn des Lesers für die Textstruktur und die räumliche Lokalisierung von Informationen (Eklundh 1992). Durch Hyperlinks werden multiple Textstrukturen geschaffen, statt – wie in einem analogen Text – eine lineare. Dadurch ermöglichen sie einerseits eine Erweiterung der Textinformationen. Andererseits bedeutet dies aber auch, dass eine Vielzahl von Informationen vom Arbeitsgedächtnis verarbeitet werden muss. Des Weiteren unterbrechen Hyperlinks den Lesefluss. Insbesondere das tiefe Eintauchen in den Text und seine Struktur wird durch die Verlinkungen erschwert.

Hinzu kommt, dass nicht nur Hyperlinks, sondern auch andere grafische Elemente (eingebettete Videos, Bilder oder Werbebanner) eine Ablenkung darstellen können, wenn Leser:innen sich dessen nicht bewusst sind. SuS sind es ebenfalls gewohnt, schnell zwischen verschiedenen Anwendungen zu switchen (Google, Instagram, TikTok).

Demnach stellt die Interaktivität und Multimodalität digitaler Texte erhöhte kognitive Anforderungen an SuS. Die erhöhte Belastung des Arbeitsgedächtnisses hat zur Folge, dass weniger freie Kapazität für das verstehende Lesen zur Verfügung steht (Salmerón et al. 2018; Wylie et al. 2018).

Ein weiterer Effekt, den die oben genannten Studien beobachten konnten, ist der Zeiteffekt. Unterschiede beim Leseverstehen von analogen vs. digitalen Texten waren größer, wenn den Studienteilnehmern ein Zeitlimit vorgegeben war. In Studien ohne Zeitlimit waren Unterschiede bei Leseverstehen von digitalen und analogen Texten weniger signifikant. SuS brauchen also länger, um einen digitalen Text zu lesen und zu verstehen.

Ohne die Beherrschung digitaler Lesestrategien werden Texte von SuS also nur flüchtig und oberflächlich gelesen (Shallowing-Hypothese) und demnach meist auch nur oberflächlich verstanden. Der Arbeitsauftrag „Lest den Text“ reicht nicht. Erst die routinierte Anwendung von digitalen Lesestrategien, die im prozeduralen Gedächtnis gespeichert sind, entlasten das Arbeitsgedächtnis der SuS, vermeiden kognitive Überlastungen und führen zu einem guten Leseverständnis.

 

Was ist also zu beachten?

Aus den oben skizzierten Befunden wird deutlich, dass digitales Lesen ein stärker gesteuertes Vorgehen erfordert. Lehrkräfte sollten daher einen genaueren Leseprozess von ihren SuS einfordern und ihnen digitale Lesestrategien vermitteln. Zunächst ist es wichtig, dass SuS sich der Ablenkungsangebote bewusst werden und lernen, ihr Klickverhalten zu reflektieren und selbst zu regulieren. Dazu gehört auch, dass digitales Lesen häufig/routinemäßig trainiert werden sollte. Da SuS sich häufig selbst überschätzen und zu wenig Zeit für das Lesen digitaler Texte einplanen, kann eine großzügige Zeitvorgabe hilfreich sein, die die SuS ausschöpfen sollen. Außerdem haben Bezdan et al. (2013) gezeigt, dass das Arbeitsgedächtnis weniger belastet wird, wenn die konkrete Struktur des Textes, die durch seine Hyperlinks entsteht, den SuS grafisch visualisiert vorgelegt wird. So können sich SuS leichter durch den Text navigieren. Dies sei effektiver, als bspw. die Benutzung der Hyperlinks technisch zu unterbinden.

Weiterhin ist es sinnvoll, eine klare Fragestellung vorzugeben, die vermittels des Textes von SuS beantwortet werden soll. Werden die aus dem Text entnommenen Informationen grafisch festgehalten (Tabelle, Schaubild etc.), werden diese samt ihren Bezügen später besser memoriert. Dies kann natürlich auch digital (OneNote, MS Word etc.) erfolgen.

Klinger und Wardemann (2019) schlagen konkret diese »Fünf-Schritt-Lesemethode 2.0« vor:

1. Überfliege den Text: Schaffe dir einen Überblick über den Text und seine Struktur.
2. Stelle W-Fragen: Mache dir parallel digitale Notizen. Hier kannst du auch kollaborativ arbeiten, z. B. über MS Teams oder Padlet.
3. Lies gründlich: Kopiere wichtige Passagen in ein Textdokument und markiere darin wichtige Inhalte. Denk daran, links zur Quellenangabe zu kopieren.
4. Fasse Wichtiges zusammen: Verschaffe dir einen Überblick und strukturiere die Inhalte. Dies kannst du auch mit einer Mindmap oder einem Padlet gemeinsam mit anderen tun.
5. Fasse in eigenen Worten zusammen: Nun kannst du alle Informationen, die du gesammelt hast, in einem Worddokument zusammenführen.

 

Literatur

Amadieu, Franck / Lemarié, Julie / Tricot, A. (2017): How may multimedia and hypertext documents support deep processing for learning? In: Psychologie française 62, S. 209–221. https://pitt.lu/ext/supportdeepprocessing.

Bezdan, Eniko / Kester, Liesbeth / Kirschner, Paul A. (2013): The influence of node sequence and extraneous load induced by graphical overviews on hypertext learning. In: Computers in Human Behavior 29, H. 3, S. 870–880. https://pitt.lu/ext/influence.

Delgado, Pablo / Vargas, Cristina / Ackerman, Rakefet / Salmeron, Ladislao (2018): Don’t throw away your printed books: A meta-analysis on the effects of reading media on reading comprehension. In: Educational Research Review 25, S. 23–38. https://pitt.lu/ext/dontthrow.

Golan, Danielle Dahan / Barzillai, Mirit / Katzir, Tami (2018): The effect of presentation mode on children’s reading preferences, performance, and self-evaluations. Computers & Education, 126, S. 346–358. https://pitt.lu/ext/effect.

Eklundh, Kerstin Severinson (1992): Problems in Achieving a Global Perspective of the Text in Computer-based Writing. In: Instructional Science. Issues and Implementations 21, S. 73–84. https://pitt.lu/ext/problems.

Kammerer, Yvonne (2019): Textverständnis beim Lesen digitaler und gedruckter Texte. In: Seminar 3: Digitale Transformation als Herausforderung für Seminar und Schule, S. 64–72.

Halamish, Vered / Elbaz, Elisya (2019): Children’s reading comprehension and metacomprehension on screen versus on paper. Computers & Education, 145. https://pitt.lu/ext/childrens.

Krommer, Axel (2016): Digitale Jugendliteratur: Social Media, eBooks und Apps. In: Der Deutschunterricht 5, S. 56–67.

https://pitt.lu/ext/digitale.

[Klinger, Amelie / Wardemann, Steffen] (2019): Die Evolution des Lesens – eine Lesestrategie für digitale Texte entwickeln. https://pitt.lu/ext/evolution.

Sanchez, Christopher. A. / Wiley, Jennifer (2009): To scroll or not to scroll: Scrolling, working memory capacity, and comprehending complex texts. Human Factors: The Journal of the Human Factors and Ergonomics Society, 51(5), 730–738. https://pitt.lu/ext/human.

SCRIPT (2019): Medienkompass. Medienkompetent lehren und lernen. www.edumedia.lu.

Wylie, Judith / Thomson, Jennifer / Leppanen, Paavo / Ackerman, Rakefet / Kanniainen, Laura / Prieler, Tanja (2018): Cognitive processes and digital reading. In: Mirit Barzillai / Jenny Thomson / Sascha Schroeder / Paul van den Broek (Hg.): Learning to Read in a Digital World. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publishing Company, S. 57–90.