1.1 Didaktischer Kommentar

Dominic Harion & Ann Kiefer

„Mit Big Data und den dazugehörigen Algorithmen erleben wir eine verstärkte Rückkehr der Mathematik und naturwissenschaftlicher Methoden in die Organisation des Sozialen“, so der Befund Felix Stalders zu automatisierten Entscheidungssystemen in unseren digitalen Kulturen (Stalder, 2017): Algorithmen sind, abseits der Bedeutung, die ihnen in der Informatik zukommt, ganz allgemein zunächst einmal „Handlungsvorschriften zur Lösung eines Problems oder einer Klasse von Problemen und bestehen aus endlich vielen, wohldefinierten Einheiten“ – auch Gebrauchsanweisungen für Maschinen und Kochrezepte sind letztlich Algorithmen. Kenntnisse darüber, was solche Algorithmizität in unserer Umwelt bedeutet und worin sie wirkt, insbesondere in ihrer Verschränkung von Technologien mit unseren Alltagswelten, gehören nun ebenso zu einem fundierten Bildungsanspruch wie Fertigkeiten darin, sie zu modellieren, anzuwenden und gegebenenfalls zu modifizieren. Algorithmen sind zunächst nichts spezifisch Technologisches, gar Technisches oder Digitales. Sie können (und sollten) in solchen spezifischen Ausformungen aber auch nicht mehr aus unseren Infrastrukturen getilgt werden und übernehmen dabei als entlastende Institutionen nicht zuletzt komplexe Prozesse.

Ein solcher Einsatzbereich, in dem Algorithmen Bestandteil von sozialen Organisationsprozessen sind, findet sich in Systemen zur Kartographierung von und Mobilitätsorganisation in Topographien, also z.B. Plänen des öffentliche Personennahverkehrs und Mobilitäts-Apps. Der „Algorithmus des kürzesten Weges“ in einem Grafen, in Fachkreisen als Breadth-first search-Algorithmus oder Dijkstra-Algorithmus (in solchen Fällen, in denen die Kanten des Grafen Gewichte haben) bekannt, stellt damit ein sehr alltagsnahes und zugleich gut selbständig erforschbares Fallbeispiel zur Umsetzung im Unterricht dar. Im Rahmen des hier vorgestellten Moduls wird ein spielerischer und kollaborativer Zugang zu diesem Algorithmus über Involution©, ein an der Universität Luxemburg von Hugo Parlier und Bruno Teheux entwickeltes mathematisches Rätsel-Spiel, gewählt. Das Erlernen algorithmischer Modellierungen über spielerische und kompetitive Verfahren wird bereits seit längerem erfolgreich anhand von „Zauberwürfeln“ (Rubik’s Cube) erprobt und diskutiert (vgl. etwa Lakkaraju et al., 2022), die Lernzugänge an der Schnittstelle von Mathematik und Informatik eröffnen (vgl. etwa Joyner, 2008; Agostinelli et al., 2019). Während anhand solcher Würfel dreidimensionale Muster veranschaulicht werden können, gestattet es Involution©, algorithmische Modelle im zweidimensionalen Raum nachzuvollziehen und zu klären. Es ist damit geeignet, über mathematische Modellbildung an lebensweltlichen Problemzusammenhängen einen transdisziplinären Lernhorizont in Digital Sciences zu eröffnen: Das Spiel mit Involution© wird mit dem Auftrag parallelisiert, den kürzesten Weg in einem U-Bahn-System herauszufinden, den die Schüler*innen bereits aus einem Digital Sciences-Kurs kennen (Digital Sciences, 2021). Solche Aufgaben zu Shortest-Path-Problemen wurden bereits mit Kindern und Jugendlichen verschiedener Altersstufen explorativ bearbeitet und zur Konkretisierung abstrakter formaler Modelle verwendet (vgl. Gibson, 2012) und lassen sich entsprechend in gestaffelten Schwierigkeitsgraden für differenzierendes Unterrichten einsetzen.

Didaktisch ist das Modul an den beiden Prinzipien des problemlösenden und kooperativen Lernens orientiert. Die Lernenden werden mit einer Problemstellung konfrontiert, zu deren Lösung eine Spielvorlage bereitgestellt und grundlegende Arbeitsanweisungen ausgegeben werden. Damit wird ein zielgerichteter kognitiver Prozess angeregt, um eine gegebene Situation in eine Zielsituation umzuwandeln, ohne eine offensichtliche Methode zur Lösung vorzugeben, wobei kreatives und kritisches Denken angesprochen werden (vgl. Mayer & Wittrock, 2006). So wird den Schüler*innen nicht zuletzt ein Perspektivenwechsel auf die MINT-Fächer ermöglicht: Für viele Jugendliche geht es in diesen Fächern darum, die „einzig richtige“ Lösung zu finden und dies möglichst schnell, welcher Zugang jedoch nicht der Realität der Bezugswissenschaften entspricht. Wissenschaftler*innen aus den MINT-Fächern haben meistens keine klare Idee, in welche Richtung sie nach einer Lösung suchen müssen – dieses Mindset kommt mitunter in den schulischen MINT-Fächern zu kurz.

Rätsel-Spiele wie Involution© bieten so auch den perfekten Rahmen, um die Resilienz der Schüler zu trainieren. „Resilienz bezieht sich auf die affektive Fähigkeit der Schüle*innen, mit Hindernissen und negativen Situationen im Lernprozess umzugehen und diese zu überwinden, indem sie diese negativen Situationen in Situationen umwandeln, die sie unterstützen” (Hutauruk & Priatna, 2017). Schüler*innen, die nicht gewohnt sind, mit frustrierenden Lernsituationen und Misserfolgen umzugehen, betrachten diese als sehr negativ. Werden Schüler*innen aber daran gewöhnt, so hat diese Resilienzerfahrung durchaus positive Folgen für das Studium und die spätere Arbeitswelt der Jugendlichen (Hutauruk & Priatna, 2017).

Die Lösung der Aufgabe erfolgt nicht in Einzelarbeit, sondern in Dyaden oder Kleingruppen und wird kompetitiv (aber nicht konkurrierend)  aufgebaut. Neben dem spielerisch-motivationalen Anreiz werden damit die Modellierung und Verbalisierung eigener Lösungswege angeregt und Möglichkeiten des Lernens über Lehren gegeben, indem die Schülerinnen und Schüler ihre Denkprozesse kommunizieren und argumentativ untermauern müssen. Dabei ist sowohl ein Setting denkbar, in dem Lerngruppen homogen nach dem Schwierigkeitsgrad der Aufgabenstellungen zusammengestellt werden wie auch eine Zusammenstellung von heterogenen Lerngruppen, in dem Schüler*innen durch ihre Mitschüler*innen bei dem Erarbeiten der Lösungswege gecoacht werden.


Referenzen
Agostinelli, Forest,  Mavalankar, Mihir, Khandelwal, Vedant, Tang, Hengtao, Wu, Dezhi, Berry, Barnett,  Srivastava, Biplav,  Sheth, Amit  & Irvin, Matthew. (2021). Designing Children’s New Learning Partner: Collaborative Artificial Intelligence for Learning to Solve the Rubik’s Cube. In Interaction Design and Children (IDC ’21). Association for Computing Machinery, New York, NY, USA, 610–614. https://doi.org/10.1145/3459990.3465175
Digital Sciences. (2021). Mon monde numérique et moi. Schüler Achse 1.
Gibson, Paul J. (2012). Teaching graph algorithms to children of all ages. In Proceedings of the 17th ACM annual conference on Innovation and technology in computer science education (ITiCSE ’12). Association for Computing Machinery, New York, NY, USA, 34–39. https://doi.org/10.1145/2325296.2325308
Hutauruk, Agusmanto J.B., & Priatna, Nanang. (2017). Mathematical Resilience of Mathematics Education Students. J. Phys.: Conf. Ser. 895 012067. https://iopscience.iop.org/article/10.1088/1742-6596/895/1/012067/pdf
Joyner, David. (2008). Adventures in group theory: Rubik’s Cube, Merlin’s machine, and other mathematical toys (2nd ed.). Baltimore : John Hopkins University Press.
Lakkaraju, Kausik, Hassan, Thahimum, Khandelwal, Vedant, Singh, Prathamjeet, Bradley, Cassidy, Shah, Ronak,  Agostinelli, Forest,  Srivastava, Biplav, &  Wu, Dezhi.(2022). ALLURE: A Multi-Modal Guided Environment for Helping Children Learn to Solve a Rubik’s Cube with Automatic Solving and Interactive Explanations. (Preliminary Preprint). https://www.aaai.org/AAAI22Papers/DEMO-00182-LakkarajuK.pdf
Mayer, Richard E. & Wittrock, Merlin C. (2006). Problem Solving. In P. A. Alexander & P. H. Winne (Eds.). Handbook of Educational Psychology (2nd Ed), 287-303. New York : Routledge.
Rogers, Hartley. (1987). Theory of Recursive Funtions and Effective Computability. Massachusetts : C1957.
Stalder, Felix. (2017). Algorithmen, die wir brauchen. https://netzpolitik.org/2017/algorithmen-die-wir-brauchen/ 

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