3.6 Interview mit Dr. Matthias Böhmer
Matthias Böhmer ist Diplompsychologe und seit 2008 Wissenschaftler an der Universität Luxemburg.
Könnten Sie noch einmal kurz zusammenfassen, was Sie unter Cyberbullying verstehen bzw. welche „Kriterien“ erfüllt sein müssen, damit von Cyberbullying gesprochen werden kann?
Cyberbullying – im deutschsprachigen Raum wird auch von Cybermobbing gesprochen – ist eine neue Form des traditionellen Bullyings unter Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT, d.h. Smartphones, Tablets etc.). Genauer wurde das Phänomen u. a. von Schultze-Krumbholz und Kolleginnen (2014) definiert: „Cyberbullying ist ein aggressives Verhalten einer Person [Täter] mit einer Schädigung oder Schädigungsabsicht gegenüber einer anderen Person [Opfer], die sich [aufgrund der Anonymität oder der Beweiskraft von Bildmaterial] nicht wehren kann. Das Verhalten findet einmalig über öffentliche Kommunikationskanäle oder wiederholt über private Kommunikationskanäle statt. Dabei ist öffentlichen Vorfällen und Vorfällen unter Freunden ein besonderer Schweregrad zuzuschreiben.“ Aus dieser und anderen Definitionen geht hervor, dass die Merkmale (1) Absicht, (2) Wiederholung, (3) Schaden, (4) Verwendung von ITK und (5) Opfer als Ziel von Bedeutung sind.
Ist das Thema überhaupt für luxemburgische Lehrkräfte relevant?
In Luxemburg geben ca. vier Prozent der Schülerinnen und Schüler an, regelmäßig, d. h. mindestens zwei- oder dreimal im Monat, Opfer von Cyberbullying zu sein. Wenn man einmalige Handlungen betrachtet, so erhöhen sich die Zahlen auf sieben bis zwölf Prozent, die eine diskreditierende Textnachricht erhalten bzw. auf vier bis acht Prozent, die mit einem unangemessenen Bild konfrontiert werden. Fasst man die derzeit vorliegenden Studien aus unterschiedlichen europäischen Ländern, den USA, Kanada und Australien zusammen, so sind Häufigkeitsraten der Cyberviktimisierung von drei bis 26 Prozent anzunehmen. Insgesamt unterstreichen diese Zahlen, dass es sich bei Cyberbullying um ein relevantes und ernst zu nehmendes Phänomen handelt.
Relevanz erlangt das Thema aber insbesondere auch durch die negativen gesundheitlichen Folgen für Opfer und Täter von Cyberbullying. Bei den Opfern führt es zu kurz- und langfristigen physischen und psychischen Gesundheitsproblemen, wie z. B. psychosomatischen Beschwerden, Traurigkeit, negativen Selbstwertgefühlen, sozialem Rückzug, Leistungsabfall in der Schule. Insbesondere eine sexuelle Viktimisierung stellt für die Opfer eine starke emotionale Belastung dar, die mit zum Teil dauerhaften negativen psychischen Konsequenzen einhergeht. Neben einem erhöhten Depressionsrisiko und einem verstärkten Angsterleben sind selbstverletzendes bis hin zu suizidalem Verhalten Folgen von Cyberbullying. Täter hingegen weisen erhöhte Depressionswerte sowie höhere Ängstlichkeit bei geringerem Selbstwertgefühl auf.
Was ist die häufigste Form von Cyberbullying?
Die häufigste Form von Cyberbullying ist über Studien hinweg das wiederholte Versenden beleidigender Nachrichten, gefolgt vom Verbreiten von Lügen und Gerüchten.
Welche Rolle spielt Sprache grundsätzlich im Kontext von Cyberbullying – welche Rolle das Thema Hate Speech?
Cyberbullying ist eine Aggressionsform, die vornehmlich sprachlich realisiert und mithilfe von IKT verbreitet wird. Eine Tätersprache gibt es jedoch nicht. So konnte in Studien gezeigt werden, dass sprachliche Formen, die bei vielen Arten des Cyberbullyings auftreten – z. B. Pejorativa (Schimpfwörter), dehumanisierende Metaphern oder Diminuierungen –, für die alltägliche Jugendsprache nicht ungewöhnlich sind. Das heißt, dass der Schluss, Cyberbullying läge vor, wenn diese oder jene sprachliche Form gebraucht wird, nicht zutreffend ist.
Dem Begriff Hate Speech oder Hassrede fehlt es zwar aktuell noch an definitorischer Schärfe, aber verschiedene Autoren wollen ihn von Cyberbullying wie folgt abgegrenzt wissen: Während sich Cyberbullying stets gegen ein Opfer als Ziel richtet, erfolgt Hate Speech gegen Gruppen oder, besser gesagt, gegen Personen, die einer bestimmten Gruppe zugeordnet werden. Diese Personen erfahren Herabsetzung und Verunglimpfung beispielsweise aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer (vermeintlichen) Herkunft, ihrer Religionszugehörigkeit, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung.
Worauf sollten Lehrkräfte achten, um Fälle von Cyberbullying überhaupt wahrzunehmen?
Lehrerinnen und Lehrer sollten auf folgende acht Warnsignale achten, um Opfer von Cyberbullying frühzeitig zu erkennen: (1) gedrückte, also niedergeschlagene, traurige Stimmung, (2) Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme, (3) schlechter werdende Leistungen in der Schule, (4) Verschlossenheit bzw. plötzlicher sozialer Rückzug, (5) Schulabsentismus, also vermehrtes Fehlen im Unterricht, (6) Wut- oder Angstzustände, (7) körperliche Symptome wie Kopf- oder Bauchschmerzen und (8) geistige Abwesenheit und/oder Rückzug in eine andere Welt.
Leider geben diese Auffälligkeiten nicht zwingend Auskunft darüber, ob der/die betroffene Schüler/-in Opfer von Cyberbullying ist – die Warnsignale passen auch auf eine Menge anderer Probleme von Kindern und Jugendlichen. Daher ist es ratsam, dass Lehrkräfte, wenn sie eines oder mehrere der genannten Signale wahrnehmen, umgehend Kontakt mit dem/der betroffenen Schüler/-in aufnehmen, ihn/sie in Ruhe darauf ansprechen und ihm/ihr Hilfe anbieten. Im Gespräch sollte geklärt werden, was die von der Lehrkraft wahrgenommenen Signale verursacht hat, um dann gemeinsam das weitere Vorgehen zu planen.
Welche Möglichkeiten der Intervention haben Lehrkräfte – wie sollten sie sich verhalten?
Grundsätzlich gilt hier, dass Lehrkräfte dem/der Betroffenen deutlich machen sollten, dass er/sie nicht alleine mit seinem/ihrem Problem ist, sondern dass es Personen gibt, die ihm/ihr helfen können. Daher ist es notwendig, dass Lehrkräfte dem Opfer ein Gespräch und Hilfe anbieten und ihm dadurch Unterstützung signalisieren. Hierbei ist wichtig, dass nicht ohne das Wissen oder sogar gegen den Willen des Opfers gehandelt wird. Dadurch wird vermieden, dass das Opfer sich u. U. erneut einer Situation hilflos ausgeliefert fühlt.
Sollte eine Lehrkraft Kenntnis von Cyberbullying erhalten, so sollte Sie dem/der betroffenen Schüler/-in raten, nicht auf die Angriffe zu reagieren (a). Stattdessen sollte geprüft werden, ob das Opfer den Cybertäter kennt – das ist, ganz im Gegensatz zur verbreiteten Meinung, Anonymität sei Voraussetzung für Cyberbullying, bei etwa 50 Prozent der Fall. Falls ja, sollte dieser aus den Kontaktdaten gelöscht werden, um dem Täter den Zugriff auf z. B. Statusmeldungen des Opfers zu erschweren. Daneben sollte die Lehrkraft dem Opfer helfen, Beweise von den Handlungen des Täters z. B. durch Screenshots zu sichern (b). Hierbei ist allerdings zu beachten, dass Lehrerinnen und Lehrer die Inhalte des Smartphones, Tablets etc. des Opfers nicht gegen dessen Willen und ohne Genehmigung der Eltern einsehen dürfen, weshalb zunächst eine vorübergehende Verwahrung des entsprechenden Gerätes sinnvoll sein kann. Auch sollte die Lehrkraft das Opfer im Anschluss an die Beweissicherung dazu anleiten, diskreditierende Texte, Bilder oder Videos zu löschen und/oder diese dem Betreiber der jeweiligen Onlinedienste zu melden (c). Und letztlich sollte die Lehrkraft in schwerwiegenden Fällen die Polizei einschalten und ggf. Anzeige erstatten (d).
Wo können sich luxemburgische Lehrkräfte Unterstützung suchen?
Lehrerinnen und Lehrer können sich grundsätzlich an ihrer eigenen Schule an das jeweilige SePAS (Service psycho-social et d’accompagnement scolaire) wenden. Darüber hinaus können sie die Helpline (Tel: 8002 1234) von BEE SECURE kontaktieren. BEE SECURE, eine Initiative des Großherzogtums Luxemburg für eine sichere Benutzung der Informations- und Kommunikationstechnologien, stellt mit der Helpline eine kostenlose, anonyme und vertrauliche telefonische Beratung für alle, auch für Lehrkräfte, bereit.
Das Interview führte Isabell Baumann.
Literatur
Schultze-Krumbholz, Anja/Höher, Jonas/Fiebig, Jana/Scheithauer, Herbert (2014): Wie definieren Jugendliche in Deutschland Cybermobbing? Eine Fokusgruppenstudie unter Jugendlichen einer deutschen Großstadt. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 63, H. 5, S. 361–378.