2.1 Didaktischer Kommentar
Dominic Harion
Balladen können zu Recht als ein unerlässliches Kernthema des Deutschunterrichts gelten, das im Bildungskanon einen festen Platz mit entsprechender curricularer Verankerung beanspruchen darf. Dabei rührt dieser Anspruch nicht allein von der gut 350-jährigen Gattungsgeschichte (Bartl 2017) – der hybride Charakter von Balladen, die in sich Merkmale von Lyrik, Epik und Dramatik vereinen und damit gleichsam in nuce diese Makrogattungen repräsentieren (ebd.), zeichnet sie neben ihrem literaturgeschichtlichen Wert gleichermaßen als ausgezeichnetes didaktisches Werkzeug aus. Um Goethe das Wort zu geben:
Das Geheimnisvolle der Ballade entspringt aus der Vortragsweise. Der Sänger nämlich hat seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren Taten und Bewegung so tief im Sinne, daß er nicht weiß, wie er ihn ans Tageslicht fördern will. Er bedient sich daher aller drei Grundarten der Poesie, um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen soll; er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen und, nach Belieben die Formen wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen oder es weit hinausschieben. Der Refrain, das Wiederkehren ebendesselben Schlußklanges, gibt dieser Dichtart den entschiedenen lyrischen Charakter. […] Übrigens ließe sich an einer Auswahl solcher Gedichte die ganze Poetik gar wohl vortragen, weil hier die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen sind […]. (Goethe 1970, 591 f.)
Balladenunterricht ist vor diesem Hintergrund prinzipiell vielfältig und wird auch in aktuellen fachdidaktischen Konzepten mit erzieherischer, kritischer oder gattungsanalytischer Ausrichtung diskutiert und zur Umsetzung anempfohlen. Einerseits lassen sich bei solcherart Zugängen also eher ethisch-moralische Fragestellungen und Vorbildfunktionen, die an einer für die Gattung paradigmatischen „konflikthaften Begebenheit“ (Bartl 2017) aufscheinen, stärker gewichten und kritisch hinterfragen. Andererseits können im Unterricht die gattungsspezifischen Merkmale im Vordergrund stehen und alle drei Schwerpunktsetzungen des Balladenunterrichts können miteinander in Beziehung gesetzt, kontextualisiert und über produktive Verfahren erschlossen und erweitert werden (vgl. Fricke/Heiser 2019).
Balladen eröffnen mithin mehrere Horizonte der unterrichtspraktischen Erarbeitung, die nicht allein gattungshistorische oder stiltheoretische Bildung zum Ziel hat: Sie verlangen vielmehr nach Adaptation und Aufführung, nach Interpretationsversuchen, die sowohl auf die Mikroebene von Wörtern wie auch diejenige des Textzusammenhanges fokussiert und dabei zugleich Bedeutung und Bedeutungswandel des geschriebenen Wortes mit der Prosodie des Vortrags verbindet. Ein so verstandener Unterricht überschreitet somit letztlich aber auch die gängigen Kompetenzraster im Sinne etwa zu erwerbender individueller Fertigkeiten von Textverständnis, Sprachreflexion und -interpretation sowie selbstständiger Textproduktion, die als Lernziele zukünftig abrufbar wären – Ziele, die ohnehin nicht in einzelnen Unterrichtseinheiten oder -sequenzen erreichbar sind. Vielmehr eröffnet der Balladenunterricht idealerweise einen dynamischen Erfahrungshorizont, der Sprachreflexion im Sinne einer Ermöglichung von Selbst- und Weltverständnis eröffnet und Schülerinnen und Schülern Mittel an die Hand gibt, über Sprache multimedial selbst gestaltend tätig zu werden. Der Balladenunterricht profitiert in diesem Sinne von der genuinen Hybridität seines Gegenstandes, der sich – episch, lyrisch, dramatisch – etwa auch zeitgenössischen musikalischen und theatralen Inszenierungen anbietet bis hinein in popkulturelle Umarbeitungen klassischer Stoffe und neue balladeske Textentwürfe. Der didaktische Zugang kann damit im Sinne einer Steigerung der Lese- und auch der eigenständigen Produktionsmotivation von Schülerinnen und Schülern über lebensweltliche Anschlussmöglichkeiten erleichtert werden. Die Anforderungen insbesondere an das Sprachverständnis ist für die Analyse und Interpretation wie auch die produktive Arbeit mit Balladen dabei gleichwohl hoch und verlangt eine differenzierte vorgängige Einschätzung des Lernstandes der Klassengemeinschaft zur Schaffung geeigneter inhaltlicher und didaktischer Zugänge (vgl. Fricke/Heiser 2019). Differenzierende Unterrichtsentwürfe, die den unterschiedlichen sprachlichen Kompetenzniveaus Rechnung tragen, sind also ebenso geboten wie auch gut umsetzbar, da die vielfältigen Lernziele, die sich für den Balladenunterricht ableiten lassen, auch an heterogene Lerngruppen anzupassen sind.
Literatur
Bartl, Andrea (2017): Was ist eine Ballade? Versuch einer Gattungs-(Neu-)Definition. In: Dies. / Corina Erk / Martin Kraus / Annika Hanauska (Hg.): Die Ballade. Neue Perspektiven auf eine traditionsreiche Gattung. Würzburg: Könighausen & Neumann, S. 9–19.
Fricke, Gunnar / Heiser, Ines (2019): Die Ballade – ein Selbstgänger? Zugänge im Deutschunterricht schaffen. In: Deutsch 5–10 58, S. 28–31.
Goethe, Johann Wolfgang von (1970): Ballade. Betrachtung und Auslegung [1821]. In: Ders.: Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Bd. 17: Schriften zur Literatur I. Berlin 1970, S. 590–593. https://pitt.lu/ext/kunsttheoretische.