2.1 Didaktischer Kommentar
Isabell Baumann & Dominic Harion
Klima, Krieg, Corona – das sind drei Krisen, die die Lebenswelten von Jugendlichen durchziehen und von der Mehrheit der europäischen Jugendlichen als die drängendsten Herausforderungen unserer Gegenwart und Zukunft identifiziert werden (Eurobarometer 2022; für Luxemburg: YSL, Jugendbericht). Mit Blick auf die Klimaerwärmung diskutieren Jugendliche in sozialen Medien engagiert über Klimagerechtigkeit oder ressourcenschonendes Umwelthandeln (z. B. Veganismus oder Verzicht auf Flugreisen). Auch im Kontext von Fake News wird beim Thema Klimaerwärmung stets um die Unterscheidung von Fakten und Meinungen gerungen. In der Zeitung Le Monde diplomatique ist kürzlich ein Artikel mit dem Titel „Klimakiller Tiktok“ erschienen, der die Auswirkungen der Internetnutzung auf das Klima thematisiert. Der hohe Energieverbrauch von Rechenzentren z. B. für das Streamen von Netflix-Serien, die aufwendigen Kühlanlagen, die für die Dateninfrastruktur 24/7 in Betrieb sind, oder die ressourcenverschlingende Extraktion seltener Erden zur Herstellung von Smartphones sind auf wissenschaftlicher Ebene bereits bekannt. Eine Recherche auf Instagram, Facebook und Twitter zeigt allerdings, dass diese Auswirkungen der Digitalisierung von Jugendlichen eher seltener diskutiert und reflektiert werden. Daher kann eine Diskussion im Schulunterricht über individuelle ökologische Fußabdrücke, Schüler*innen einerseits Möglichkeiten aufzeigen, den eigenen Verbrauch von Ressourcen zu reflektieren; andererseits lässt sich über eine an lebensweltlichen Beispielen geschulte produktive und rezeptive Argumentationskompetenz ein kritisches Bewusstsein von sozialen und ökologischen Ursachen und Folgen des menschlichen Eingreifens in Ökosysteme kultivieren und es können auch die Prozesse der eigenen Meinungsbildung und individuelle Werteschemata transparent gemacht werden. Argumentationskompetenz bildet ein wesentliches Lernziel für alle Unterrichtsfächer und ist Voraussetzung für gesellschaftliche Partizipation, „mit deren Hilfe die eigenen wirtschaftlichen, politischen, ökologischen oder sozialen Interessen aktiv und reflektiert durchgesetzt werden können“ (Budke & Uhlenwinkel, 2011, S. 114).
Ein Instrument, das zur intuitiven Erfassung und Gewichtung von Argumenten, aber auch zur gemeinsamen Diskussion, Aushandlung und Revision derselben in Einzel- und Gruppensettings sehr gut geeignet ist, ist die Argumentationswippe: Sie gestattet es, spontan Zuordnungen von Pro- und Contra-Argumenten vorzunehmen, diese zu priorisieren und schließlich zu einer Bewertung des untersuchten Sachverhaltes und einer eigenen Stellungnahme zu gelangen. Wenn sie erstmalig eingesetzt wird (oder aber, wenn Argumentationskompetenz und Schlussverfahren erstmals mit einer Klasse thematisiert werden), wird der Fokus dabei zunächst nicht auf elaborierten Argumentationsschemata und rhetorischen Techniken liegen. Vielmehr wird es oft darum gehen, mit den SuS den Unterschied zwischen einer Sammlung von Fakten sowie der darauf aufbauenden Bildung von Argumenten und der eigenen Meinung durchschaubar zu machen und die Argumente dann gemeinsam auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen. Dies kann im Rahmen von VIESO oder im fächerübergreifenden Unterrichtssetting geschehen, etwa wenn naturalistische, Sein-Sollen-Fehlschlüsse oder das Toulmin-Schema erarbeitet werden (vgl. für schülerzentrierte Zugänge etwa Pfeifer, 2022, S. 7–27 und Hilgart, 2017, S. 7–11), aber auch in den je eigenen fachspezifischen Domänen (vgl. exemplarisch für den Geografie-Unterricht etwa Tumbrink, 2018).
In diesem Modul soll es ausdrücklich nicht darum gehen, ausschließlich negative Implikationen des Internetgebrauchs sichtbar zu machen. Denn Digitalisierung und Internet bieten nicht nur vielfältige Vorzüge, sie sind auch zu unhintergehbaren Mitteln in der Kultur der Digitalität avanciert, auf die nicht verzichtet werden kann. So verursachen freilich das Anschauen des Informationsvideos oder die Arbeit mit der digitalen Argumentationswippe selbst wieder CO2-Emissionen, was allerdings nicht nur negativ gesehen werden kann. Vielmehr soll die Arbeit in diesem Modul das Dilemma aufzeigen, in dem sich unsere Gesellschaft derzeit befindet, und dazu anregen, eigene Wertehierarchien und Rechtfertigungsstrategien zu hinterfragen und Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Mehr zu diesem Thema können Sie auch im Interview mit Dr. Benoit Mattlet erfahren, in dem wir über den immer größer werdenden Elektrizitätsverbrauch sowie über digitale Lösungen, um diesen besser zu überwachen, diskutieren.
Referenzen
Budke, Alexandra & Uhlenwinkel, Anke. (2011). Argumentieren im Geographieunterricht – Theoretische Grundlagen und unterrichtspraktische Umsetzungen. In: Meyer, Christiane et al. (Eds.), Geographische Bildung (S. 114–129). Braunschweig: Westermann.
Europäisches Parlament & Europäische Kommission. (2022). Future of Europe 2021.
Hilgart, Johannes (Ed.). (2017): Standpunkte der Ethik: Lehr- und Arbeitsbuch für die gymnasiale Oberstufe. Paderborn.
Ministère de l’Éducation nationale, de l’Enfance et de la Jeunesse & Université du Luxembourg (Ed.). (2021). Rapport national sur la situation de la jeunesse au Luxembourg 2020. Le bien-être et la santé des jeunes au Luxembourg.
Pfeifer, Volker. (2022). Ethisch argumentieren. Eine Anleitung anhand von aktuellen Fallanalysen. Paderborn.
Tumbrink, Jonas. (2018). Argumentationswippe. Reflexion von Wertmaßstäben durch das Gewichten von Argumenten. Praxis Geographie, 7/8, 36-39.